Von einer, die Zwangsprostitution überlebt hat
Plauen, 29. Mai 2019. (Der folgende Text ist eine verschriftlichte Tonaufnahme. Da die Interviewte keine deutsche Muttersprachlerin ist, habe ich mir erlaubt, kleine, nicht sinnverändernde Korrekturen vorzunehmen.)
„Ich bin in Deutschland seit fünf Jahren, ich lebe in einer eigenen Wohnung seit zwei Jahren, also zur Miete. Die restlichen drei Jahre habe ich bei KARO e.V. im Schutzhaus gelebt. Reingekommen bin ich obdachlos, drogensüchtig und (sie schweigt kurz) schwanger – hochschwanger. Reingekommen bin ich im Januar, geboren wurde mein Sohn Anfang Februar. Ich bin angekommen ohne eine ärztliche Untersuchung. Ich habe nicht gewusst, ob mein Kind gesund ist, ob es ein Mädchen ist oder Junge.
(Wieder macht sie eine Pause und schweigt.)
Es war Winter, es war richtig kalt. Ich habe schon geahnt, dass das Kind bald auf die Welt kommt, aber ich war obdachlos. Ich war auf der Straße. Obwohl ich hochschwanger war, habe ich mich trotzdem noch prostituiert.
Dann ist einmal dieses Streetworkauto vorbeigefahren von KARO e.V. Ich habe ihnen gewunken, sie haben angehalten. Ich habe ihnen gar nichts erklärt. Die Sozialarbeiterin hat gleich gemerkt, dass ich schwanger bin. Sie hat zu mir gesagt: Ich darf dich hier nicht mehr lassen, du bist in Gefahr. Es ist deine Entscheidung, ob du mitkommst und wir helfen dir. Aber wenn du hier bleibst, weißt du ja, wie es weitergeht.
Dann bin ich einfach eingestiegen und rüber nach Deutschland gekommen, wo es auf die Schnelle Kleidung für mein Kind gab. Für die ersten ärztliche Untersuchungen mussten sie mich hin und her fahren über die Grenze, weil ich damals noch kein Recht hatte, mich in Deutschland untersuchen zu lassen. Das war dann meine erste ärztliche Untersuchung in der Schwangerschaft. Die haben dann in Cheb, Tschechien, festgestellt, dass ich den Entbindungstermin zehn Tage später habe. Das war richtig knapp.
(Sie dreht sich zu Cathrin um, die etwas weiter hinten im Raum sitzt und dem Gespräch zuhört.)
Der erste Mensch, der mein Baby gesehen hat, war die Cathrin. (Beide lachen. Cathrin ergänzt: "Ich hab ihn noch eher gesehen als du, den Kleinen.") – Sogar vor mir hat sie mein Baby gesehen. Diese Unterstützung ist unvergesslich, was sie gemacht haben. (Sie macht wieder eine kleine Pause.)
„Allgemein auf der Straße war ich (Sie überlegt.) 18 Jahre, fast 20. (Ich höre ein flüsterndes Okay von mir, so sprachlos kenne ich mich gar nicht.)
Ich war 12, 13 Jahre, als ich angefangen habe. Am Anfang habe ich das für meine Mutter gemacht. Sie war meine erste Zuhälter, wenn ich das so sagen kann. Da war ich einfach noch Kind, da habe ich gar überhaupt nicht kapiert, was da läuft. Mein Tagesablauf war: aus der Schule nach Hause gekommen, essen und dann auf die Straße bis abends und so jeden Tag. Und eines Tages hat sie mich verkauft. Da war ich dann in einer anderen Stadt, auch Grenzgebiet, wo ich anschaffen musste für einen fremden Mann. Da waren mehrere Frauen, ich war aber die Jüngste.
Ich frage dazwischen: "Das heißt, davor warst du noch ganz normal in der Schule und da hat sich niemand...?" - Sie schüttelt den Kopf, wir schweigen beide.
Dann sagt sie: "Nein. da hat sich niemand dafür interessiert. In den 90er-Jahren in der Tschechei war alles sehr korruptiv. Manche Polizisten haben mir die Freier noch mitgebracht für ein paar Mark.
Da hat sich niemand interessiert, niemand, der dir die Hand gibt und gesagt hat: Komm, du hast hier nichts zu suchen und mir geholfen hat. Da war niemand.
Ich weiß noch, dass ich ein paarmal versucht habe, vor ihm zu flüchten... (Sie unterbricht sich.)
Meine erste Drogenerfahrung, das war so: Er hat uns morgens immer eine Tasse Kaffee gegeben. Da war Pervitin drin. Damit ich einfach das Ganze durchhalte und mitmache, ohne dass ich viel denke. Und ja, paarmal habe ich versucht, wegzulaufen. Aber halt: wohin, das war das große Problem, also ich wusste nicht, wohin.
Bei dem war ich zwei Jahre. Er ist dann – ich glaube – nach England reingekommen. Er hat einen Haufen, Haufen Geld bekommen von uns und davon hat er sich wo anders ein anderes Leben (kurze Pause) gestattet.
Uns hat er dann auch verkauft in einen Puff an der Grenze. Da war ich (sie stockt und beendet den Satz nicht). Da war es krass. Da waren so 17 bis 20 Mädchen von allen Gegenden der Tschechei, verschiedene Alter. Da war ich auch die jüngste. Wieder ohne Ausweis, ohne nichts. Da hat er uns oft auch nach draußen gestellt und oft auch zwischen den Puffs getauscht. Da waren mehrere Puffs, die haben die Mädchen immer ausgewechselt.
Da bin ich auch weggelaufen und dann wieder nach Hause gekommen. Da war ich 17 Jahre alt. Da musste ich nicht mehr in die Schule. Dann habe ich die Straße wieder angefangen. Diesmal für uns, also für mich und meine Familie. Da war ich schon drogensüchtig.
Das habe ich dann die ganzen Jahre gemacht. Dann hatte ich paar Freunde – sie lacht. Verbittert? - Freunde, (Sie lacht kurz. Verbittert?) neue Zuhälter.
Dann habe ich einen kennengelernt. Mit dem habe ich jetzt eine zwölfjährige Tochter. Die ist nicht bei mir. Von ihm habe ich mich getrennt. Er hat aber auch davon genug gehabt, dass ich mich prostituiert habe.
So ging das die ganzen Jahre immer wieder."
Dieser Gesprächsausschnitt stammt aus einem Interview, dass ich bei KARO e.V. mit einer ehemaligen Zwangsprostituierten führen durfte. Es dient mir als Hintergrund für die Kampagnenarbeit. Ich bin dankbar, dass ich dieses Gespräch führen durfte. Die Interviewte bleibt zu ihrem eigenen Schutz selbstverständlich anonym. Weitere Interviewteile werden folgen.
Sehr gern stelle ich das Interview auf Anfrage für eine Medienveröffentlichung zur Verfügung.